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Teil 2: Ali – einer von 70.000 – ein unbegleiteter Minderjähriger in einer deutschen Familie

Seit dem im 1. Newsletter des Landesjugendamtes veröffentlichten ersten Teil von Alis’ Geschichte sind jetzt mehr als acht Monate vergangen. Seitdem ist viel passiert und wir haben beschlossen, Alis’ Geschichte hier weiter zu erzählen.

Ali lebt immer noch bei uns und ist mittlerweile ein kaum wegzudenkender Bestandteil unserer Familie. Er selbst pendelt – in seinen Gedanken - nach wie vor zwischen Syrien und Deutschland. Es ist oft ein täglicher Kampf, ihn nach Deutschland zu holen. Aber der Reihe nach:

Ali geht jetzt in die zehnte Klasse unserer örtlichen Gesamtschule und die Schule prüft gerade, ob er in Mathematik und in den Naturwissenschaften in die erweiterten Kurse wechseln kann, der ihm im Zusammenhang mit einer Sprachkenntnisprüfung auf Arabisch sogar einen Realschulabschluss ermöglichen würden. An diese Möglichkeit hätte noch vor ein paar Monaten niemand geglaubt. Ali war bis zu den Sommerferien noch in der Sprachlernklasse und nur in einigen Fächern im normalen Unterricht eingegliedert. Nach den Sommerferien bedurfte es zunächst gegenüber der Schule einiger Überredungskunst, damit er vollständig in eine reguläre Klasse wechseln konnte. Zur Probe bis zu den Herbstferien, hieß es zunächst. Wilhelm Tell im Deutschunterricht, Genetik in Biologie, Algebra in Mathematik, Nationalsozialismus, Blues im Musikunterricht. Ali hatte – bis auf den Nationalsozialismus - von nichts auch nur die geringste Ahnung. In Syrien war er ja bis zur achten Klasse zur Schule gegangen, anschließend mit 14 zur Armee. Jetzt hat er ein Ziel, ist stark motiviert und erstaunt uns immer wieder mit seinen Fähigkeiten.

In den Sommerferien hatten wir viel über seine Ideen, Ziele und Pläne gesprochen. Ali möchte Notfallsanitäter werden. Das ist sein Ziel! Nach Beendigung der Ausbildung möchte er in Auslandseinsätzen in Krisengebieten tätig sein. Er möchte anderen Menschen ein bisschen von dem wiedergeben, was ihm durch seine Flucht ermöglicht wurde. Und was zu Beginn – zumindest auf direktem Wege - so aussichtslos schien, nimmt derzeit tatsächlich Gestalt an. Ali schreibt – bislang ja in den zum Hauptschulabschluss führenden Grundkursen – fast durchweg gute Noten. Sprachlich natürlich mit einigem Kauderwelsch, aber die Lehrer haben entdeckt, dass er lernt und den Stoff begreift. Und jetzt will Ali mehr. Er möchte den Realschulabschluss schaffen, um auf direktem Weg eine Ausbildung in seinem gewünschten Beruf beginnen zu können.

Die Schule ist der Ort, an dem Ali am besten seine dunklen Gedanken ausblenden kann. Natürlich gibt es Lehrerinnen und Lehrer und sicher auch Schülerinnen und Schüler, die ihm mit großer Skepsis begegnen – und manchmal mag auch Angst dabei sein. Dieser vor Kraft strotzende fremde Jugendliche weckt nicht bei jedem den Beschützerinstinkt. So wird er aus dem Sportunterricht geworfen, als er beim Aufwärmen einen Freund mit einem Ball abschießt. Viele andere haben das auch gemacht, aber Ali wird herausgegriffen. Es kommt zu einem Gespräch mit uns, dem Fachlehrer und dem Klassenlehrer und der beidseitige Frieden ist wieder hergestellt. Solche Gespräche mit den Klassen- oder Fachlehrern sowie der Schulleitung sind immer wieder notwendig und hilfreich, um zu erklären, zu vermitteln und zu verstehen.

In der Klasse selbst ist Ali gut integriert, wurde schon zu Partys eingeladen und hat deutsche Freunde gefunden. An der Abschlussfahrt nach Kopenhagen durfte er mit einer Ausnahmegenehmigung teilnehmen und es ist – auch zu unserer Beruhigung – alles gut gegangen. Mittlerweile verbringt er mehr Zeit mit seinen deutschen Freunden als mit seinem kurdisch-syrisch-arabischen Kreis, der in den ersten Monaten ständiger Gast in unserem Haus war. Ali pflegt seine wichtigen Kontakte, hält sich aber auch von Freunden mit einem schwierigen Lebenswandel bewusst fern.

Die größte Sorge gilt natürlich seiner Familie. Seine Eltern und Geschwister leben nach wie vor im syrischen Kurdengebiet. Der Krieg ist nah, an eine normale Versorgungslage ist nicht zu denken. Ali spart fast sein gesamtes Taschengeld, hilft bei uns in Haus und Garten und schickt regelmäßig Geld nach Hause. Lebensmittel sind dort weitaus teurer als in Europa und seine Familie muss zeitweilig hungern. Er würde sie jetzt so gerne nachholen, aber sein Asylverfahren kommt nicht spürbar voran. Sein syrischer Pass ist mittlerweile auf Echtheit geprüft, eine Entscheidung ist aber auch nach jetzt 1,5 Jahren in weiter Ferne. Im Umgang mit anderen Behörden- also auch mit dem BAMF – sind wir auf Ali´s Vormund angewiesen. Der Umgang mit den Vormündern ist auch nach unseren Vorerfahrungen bei anderen Kindern und Jugendlichen nicht immer einfach. Sind wir zu fordernd oder zu rührig, gibt es buchstäblich „einen auf den Deckel“. Verhalten wir uns konform, passiert hauptsächlich - nichts. Eine Ausbildung im diplomatischen Dienst kann also im Umgang mit Vormündern nicht schaden.

Jedenfalls scheint sich kaum jemand vorstellen zu können, was die Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus mit den jungen Menschen macht. Jeden Tag der mehrfache Blick in den Briefkasten, jeden Tag die enttäuschte Hoffnung. Ein Wunder, dass Ali das alles so wegsteckt und die Schule so gut meistert.

Ali reagiert auf diese Unsicherheit auf seine Weise. Neben seinen Kriegsbildern im Kopf, neben seiner Angst um seine Familie ist es die Angst vor seiner eigenen Zukunft, die ihn nach wie vor kaum schlafen lässt. Auch nach über einem Jahr in unserer Familie und nach seinen vielen guten Erlebnissen bleibt der Schlaf sein hartnäckigster Gegner.

Was noch schwierig ist? Die deutschen Mädchen stellen für Ali nach wie vor ein großes Mysterium dar. Er ist für sein Alter vergleichsweise männlich, sieht gut aus und wurde schon sehr schnell sehr aktiv von Mädchen seiner Schule insbesondere über WhatsApp angesprochen. Wir haben schon in Teil 1 davon berichtet. Zu einer echten Beziehung ist es jedoch bis heute nicht gekommen. Einerseits Angst und Unsicherheit – über WhatsApp kommen sehr schnell pulsierende Herzchen angeflogen, bei einem verabredeten Treffen nimmt das Mädchen Reißaus. Andererseits kommt es schnell zu großer Nähe, was in Alis Kultur fast einem Heiratsversprechen gleichkommt. Für ihn ist das alles nicht wirklich zu verstehen.

In seinem Zuhause ist Ali komplett angekommen. Er hat eine starke Präsenz und trägt im Haus viele seiner inneren Spannungen nach außen. Die daraus entstehenden Konflikte lassen sich mit Ali gut mit bearbeiten. Unser Kommunikationsstil mit ihm ist auf größtmöglicher Transparenz und Vertrauen angelegt. Darin können auch sehr intensive Auseinandersetzungen enthalten sein. Wir haben die Erfahrung gemacht, dass Ali gut damit zurechtkommt, er das Vertrauen unsererseits zu schätzen weiß und wir auch in kritischen Situationen mit ihm immer einen gemeinsamen Weg finden.

Hannelore und Günther Müller, Duhnsen


Teil 1 finden Sie hier:

http://www.soziales.niedersachsen.de/newsletter_jin/newsletter_2016/ali--einer-von-70000--ein-uma-in-einer-deutschen-familie-142304.html



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