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Die UMA-Entwicklung in Niedersachsen – ein Rückblick

Es ist schon wieder fast in Vergessenheit geraten: zwischen dem Spätsommer 2015 und dem Frühjahr 2016 erlebten die Jugendämter auch in Niedersachsen einen in dieser Form nicht erwartbaren und nur mühsam zu gestaltenden Ansturm von Flüchtlingen und darunter zahlreichen jungen Menschen, die den Status des unbegleiteten minderjährigen Flüchtlings UMA hatten.

Im Jahr 2010 waren in Niedersachsen 157 UMA registriert, im Jahr 2013 war diese Zahl dann bereits auf 257 angestiegen, fast eine Verdoppelung und dennoch eine Zahl, die sich in der heutigen Rückschau als geradezu „niedlich“ darstellt. In Niedersachsen gab es eine Reihe von Jugendämtern (Braunschweig, Göttingen, Hannover, Leer), die auch vor der großen Zahl der einreisenden Flüchtlinge mit UMA zu tun hatten, aber es gab auch eine große Zahl von Jugendämtern, die mit dieser Jugendhilfethematik nichts zu tun hatten.

Im Jahr 2015 stieg dann die Zahl der UMA im Jahresverlauf deutlich an, um in der zweiten Jahreshälfte dramatische Anstiege zu verzeichnen.

Im Mai 2015 fragte das Landesjugendamt auf Grund eines Artikels in der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung zur möglichen Prognose der Einreisezahlen beim Bundesverwaltungsamt in Köln an, mit wie vielen UMA das BVA denn für das Jahr 2015 rechnen würde. Laut deren Auskunft sah man bis Jahresende 2015 rd. 30.000 UMA in Deutschland – das wären nach dem Königsteiner Schlüssel etwa 2.800 UMA für Niedersachsen gewesen, auch noch ein massiver Anstieg gegenüber den Vorjahren.

Am Jahresende 2015 waren in Niedersachsen 4.330 UMA registriert und damit das 17-fache der zwei Jahre zuvor registrierten Anzahl.

Dass die Prognose des BVA zum Jahresende dann bundesweit um mehr als das Doppelte überschritten wurde (66.721), zeigt einmal mehr die zu diesem Zeitpunkt nicht mehr planbare Dynamik der Entwicklung auf.

Insbesondere Bayern und Bremen waren zwei Bundesländer, die im Sommer/ Herbst 2015 innerhalb kürzester Zeit eine so große Zahl von Flüchtlingen und UMA aufnehmen mussten, dass die dortigen Systeme nicht nur zu kollabieren drohten, sondern in einigen Jugendämtern tatsächlich kollabierten. ( hier Zahlen Rosenheim, Passau u.a.)

Im Sommer 2015 wurde daher auf Bundesebene das spätere Gesetz zur Verbesserung der Unterbringung, Versorgung und Betreuung unbegleiteter ausländischer Kinder und Jugendlicher“ als Referentenentwurf auf den Weg gebracht.

Ziel war es, nicht mehr die Kosten bundesweit zu verteilen (und die UMA dort zu belassen, wo sie zunächst in Obhut genommen worden waren), sondern die realen Menschen in Bundesländer umverteilen zu können, die weniger UMA aufgenommen hatten, und damit auch die real vorhandene Ungleichverteilung zu verringern. Dahinter steckte auch die Überlegung, dass bei einer so großen Anzahl von UMA das Kindeswohl in den überlasteten Jugendämtern und den Noteinrichtungen, die hergerichtet werden mussten, nicht mehr sichergestellt werden konnte.

Der Zeitpunkt des Inkrafttreten dieses Gesetzes war zwischenzeitlich ungewiss; im Niedersächsischen Landesjugendhilfeausschuss am 4.9.2015 wurde von Seiten des Sozialministeriums mitgeteilt, dass ein Inkrafttreten zum 01.01.2016 vorgesehen sei, wegen erforderlicher landesgesetzlicher Regelungen Niedersachsen aber für ein Inkrafttreten zum 01.04.2016 eintreten werde.

Der politische Druck insbesondere der überlasteten Bundesländer Bayern, Bremen, Hamburg oder Hessen wurde dann aber so groß, dass das Gesetz ohne Übergangsfrist bereits zum 01.11.2015 in Kraft trat. Nur eine kleine Anekdote am Rande: das am Sonntag, den 01.11.2015 in Kraft tretende Gesetz wurde erst am Freitag, den 30.10.2015 im Bundesgesetzblatt veröffentlich!

Niedersachsen war eines der Bundesländer, das deutlich weniger UMA aufgenommen hatte, als es lt. Königsteiner Schlüssel hätte aufnehmen müssen. Als das Gesetz in Kraft trat, hatte Niedersachsen eine Aufnahmequote von 51,1 %, während z.B. Bremen bei 496 %, Hamburg bei 229,8 % oder Hessen bei 187,1 % lagen, Sachsen-Anhalt dagegen bei 27,6 %.

Für Niedersachsen ergab sich in den ersten Monaten nach Inkrafttreten des Gesetzes der Umstand, dass Bremen, Hamburg, Hessen und Schleswig-Holstein Niedersachsen als unmittelbar angrenzendes Bundesland, tw. sogar als einziges angrenzendes Bundesland hatten und mithin vom Bundesverwaltungsamt zeitweise täglich UMA aus allen vier Bundesländern nach Niedersachsen umverteilt wurde.

Die Anzahl der UMA stieg zwischen Anfang November 2015 und Ende März 2016 von 2.630 UMA auf 5.381 (wobei hinter diesen statistischen Zahlen eine größere Anzahl konkreter UMA steckt, weil die Zu- und Abwanderungsdynamik damit nicht dargestellt ist).

Zwischen November 2015 und März 2016 verteilte die Landesverteilstelle insgesamt 2.553 UMA (d.h. im Durchschnitt pro Monat ~ 640 UMA) auf die niedersächsischen Jugendämter.

Das war eine Überforderung der beteiligten Systeme. Die Jugendämter konnten so schnell keine ausreichenden, den Jugendhilfestandards entsprechenden Unterbringungsplätze schaffen, geschweige denn geeignetes Personal rekrutieren. Nur durch die Inanspruchnahme von anderen Jugendhilfeeinrichtungen wie Jugendzentren und –heimen oder die Unterbringung in Notunterkünften wie alten Baumärkten und durch die Bereitschaft vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendämter und anderer kommunaler Fachbereiche war es überhaupt möglich, wenigstens Obdachlosigkeit zu verhindern. Bis Ende März stiegen die Zahlen stetig an und es ist wenig Prophetie erforderlich, um festzustellen, dass bei einem Fortschreiten dieser Entwicklung das Jugendhilfesystem über kurz oder lang kollabiert wäre.

In dieser Zeit erreichten die Landesverteilstelle des Landesjugendamtes immer wieder flehende Bitten von Jugendämtern in Niedersachsen, ihnen keine UMA mehr zuzuweisen, weil es an Unterbringungsmöglichkeiten fehlte.

Seit April 2016 stagnieren die Gesamtzahlen sowohl bundesweit als auch in Niedersachsen. Hier liegen sie seitdem um die 5.400 UMA, wobei sich dahinter, wie bereits oben dargestellt, eine Wanderungsdynamik verbirgt, so dass die Gesamtzahl der UMA-Fälle in der Jugendhilfe in Niedersachsen deutlich höher als der statistische Durchschnittswert ist.

Aber um die Dynamik noch einmal an einer anderen Zahl zu verdeutlichen:

Von den bislang zwischen November 2015 und März 2017, also in insgesamt 16 Monaten von der Landesverteilstelle verteilten 3.310 UMA wurden 2.553, d.h. 77,1 % in den ersten vier Monaten verteilt. Anders ausgedrückt: 77,1 % der UMA wurden im ersten Viertel, 22,9 % in drei Vierteln der bislang abgelaufenen Zeit verteilt.

Damit wird noch einmal die ungeheure Dynamik der seinerzeitigen Entwicklung deutlich, die in unserer schnelllebigen Zeit manchmal schon wieder in Vergessenheit geraten zu sein scheint.

Erst ab dem Frühsommer/ Sommer 2016 konnten die Jugendämter überhaupt beginnen, sich Gedanken über inhaltliche Konzepte der Jugendhilfe zu machen und über Alternativen zur Notunterbringung der ersten Monate nachzudenken.

Es ist aus der heutigen Sicht eine kaum vorstellbare Leistung des Jugendhilfesystems, die dort innerhalb weniger Monate für eine Vielzahl von niedersächsischen Jugendämtern bewältigt werden musste. Dass dies gelang, ist dem ungewöhnlichen Engagement aller Beteiligten zu verdanken, letztlich aber auch – das zu verschweigen wäre unredlich – dem durch politische Entscheidungen erzwungenen massiven Rückgang der Zuwanderung ab April 2016.

Umfassend wird sich der Vertiefungsbericht der Landesjugendhilfeplanung mit dieser Thematik befassen, der in einer Fachtagung in Hannover am 23. Mai 2017 vorgestellt werden wird.



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