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Keine Anrechnung von Pflegeversicherungsgeld auf das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII

Mitunter steht auch bei der Gewährung von Jugendhilfe die Frage der Anrechenbarkeit von zugleich bezogenen Leistungen anderer Sozialleistungsträger im Raum. Eine Konstellation ist der parallele Bezug von Pflegegeld auf der Grundlage des § 39 Abs. 1 Satz 2 SGB VIII einerseits und von Pflegegeld der gesetzlichen Pflegeversicherung nach § 37 SGB XI andererseits. Ein Jugendamt in Schleswig-Holstein hat diesen Parallelbezug zum Anlass genommen, das ursprünglich nach seinen Richtlinien zum dreifachen Satz gewährte Pflegegeld auf den zweifachen Satz zurückzustufen. Unstrittig war, dass der Leistungsempfänger, ein Kind mit fetalem Alkoholsyndrom, einen erheblich erhöhten Pflege- und Erziehungsbedarf aufwies, für den nach der Richtlinie des Jugendamtes grundsätzlich der dreifache Satz der Kosten für Pflege und Erziehung zu gewähren war. Diesem erhöhten Pflegebedarf war in der Pflegeversicherung mit einer Einstufung in die Pflegestufe I Rechnung getragen worden (die zum 1. Januar 2017 erfolgte Umstellung der Pflegestufen auf Pflegegrade ist für den Fall ohne Relevanz, da ein Zeitraum vor diesem Datum in Rede steht).

Das Bundesverwaltungsgericht (BVerwG) hat mit Urteil vom 24. November 2017 – 5 C 15/16 – nunmehr (in Abweichung von den Vorinstanzen) entschieden, dass eine solche Anrechnung unzulässig ist. Das Gericht klärt die Frage anhand einer eingehenden Analyse der anwendbaren Normen gemäß den klassischen Methoden der Gesetzesauslegung. Diese Spezialität der Ausführungen bedingt, dass das Urteil auf andere Konstellationen des Parallelbezugs von Leistungen verschiedener Sozialleistungsträger nicht ohne weiteres übertragbar sein dürfte. Es findet sich aber auch einige verallgemeinerungsfähige Aussagen.

Im Einzelnen stellt das Gericht folgendes fest (die Nummern beziehen sich auf die Randnummern des Urteils mit den einschlägigen Passagen, nachzulesen über den Link am Ende des Beitrags):

Die vom Jugendamt vorgenommene Anrechnung von Pflegeversicherungsgeld mindert das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII und bedarf daher einer gesetzlichen Grundlage. An einer solchen fehle es (11).

Ein etwa bestehender allgemeiner Grundsatz der Vermeidung staatlicher Doppelleistungen könne die geforderte gesetzliche Grundlage nicht ersetzen, sondern müsste sich seinerseits in einer gesetzlichen Regelung niederschlagen (12). Auch aus § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII ergebe sich eine solche Rechtsgrundlage nicht, da die Vorschrift die Art und Weise des Leistungsbezugs regele (monatlicher Pauschalbetrag), nicht aber die Leistungshöhe (13).

Auch § 39 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 SGB VIII, wonach der zuständige Jugendhilfeträger zur Sicherstellung des notwendigen Unterhalts Pflegegeld in angemessenem Umfang zu gewähren habe, enthalte die erforderliche Rechtsgrundlage nicht (14 ff.). Dem Wortlaut der Norm sei kein Anhaltspunkt für eine Befugnis zur Anrechnung von Leistungen zu entnehmen (16). Auch über eine systematische Gesetzesauslegung lasse sich dieses Ergebnis nicht erzielen (17 ff.). Die Binnensystematik der Norm nimmt das Gericht zum Anlass, einen Gegenschluss aus der dezidierten Regelung von Kürzungs- und Anrechnungstatbeständen in den Vorschriften des § 39 Abs. 4 Satz 4 und Abs. 6 Satz 1 SGB VIII zu ziehen. Dies spreche dafür, dass in anderen Fällen – so auch hier – eine Anrechnung von Leistungen Dritter bei der Bestimmung der Höhe des Pflegegeldes nach der Konzeption des Gesetzes gerade nicht erfolgen soll (18). Außensystematisch sieht das Gericht dieses Ergebnis mit einer Gesamtschau der in Rede stehenden Normen mit den Regelungen über die Kostenheranziehung bestätigt. Das Gericht konstatiert in wirtschaftlicher Betrachtung deutliche Parallelen zwischen den beiden Normkomplexen. In beiden Fällen erfolge im Zusammenhang mit einer Jugendhilfemaßnahme eine finanzielle Inanspruchnahme, durch die die Leistung – entweder durch Anrechnung oder durch Heranziehung – im Ergebnis gemindert werde (19 ff.) Ausgehend hiervon sei § 91 Abs. 5 SGB VIII zunächst zu entnehmen, dass eine Leistungsgewährung unabhängig von der Möglichkeit der Kostenheranziehung und deren etwaiger Höhe zu erfolgen habe (20). Gegen ein Recht des Jugendamts zur Anrechnung spreche zudem, dass das Pflegeversicherungsgeld nach § 37 SGB XI gemäß § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII nicht als Einkommen des Pflegekindes zu berücksichtigen sei (21 ff.). In diesem Zusammenhang hebt das BVerwG die unterschiedlichen Zweckrichtungen von Pflegeversicherungsgeld und Pflegegeld nach § 39 SGB VIII hervor (23 f.).: Hiernach sei das erstere nicht als Entgelt für die von der/den Pflegeperson(en) erbrachten Pflegeleistungen konzipiert, sondern solle Eigenverantwortlichkeit und Selbstbestimmung des Pflegebedürftigen stärken und ihm ermöglichen, seine Pflegehilfen selbst zu gestalten. Das Pflegegeld nach § 39 SGB VIII hingegen solle die Vergütung der entsprechenden Leistung der Pflegeperson(en) als Teil des gemäß § 39 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII außerhalb des Elternhauses sicherzustellenden notwendigen Unterhalts erfassen.

Schließlich stünden Sinn und Zweck sowie die Entstehungsgeschichte des § 39 SGB VIII einer Auslegung nicht entgegen, nach der das Pflegeversicherungsgeld gemäß § 37 SGB XI bei der Bemessung der Höhe des notwendigen Unterhalts im Sinne des § 39 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 SGB VIII nicht anzurechnen sei (25).

Zu entscheiden hatte das Gericht auch darüber, ob ein Zuständigkeitswechsel des örtlichen Jugendhilfeträgers den neu zuständigen Träger daran hindere, einen neuen – nämlich den eigenen – Pflegegeldsatz zu Grunde zu legen (26 ff.). Das BVerwG stellt insoweit fest, dass ein neuer Satz auch in Ansehung des § 37 Abs. 2a Satz 3 SGB VIII dem Grundsatz der Hilfekontinuität nicht widerspreche, sondern vielmehr dem Grundsatz der bedarfsgerechten Hilfe unter Berücksichtigung der Verhältnisse, die am Ort der Pflegestelle gelten, Rechnung trage (27 f.). Der zuständig gewordene Jugendhilfeträger sei daher bei der Bemessung des Pflegegeldes nach § 39 SGB VIII nicht an die Höhe des pauschalierten Satzes des Grundbetrages für Pflege und Erziehung des zuvor zuständigen Jugendhilfeträgers gebunden.

Allgemeingültig stellt das Gericht nach alledem insbesondere klar, dass die mit einer Anrechnung einhergehende Leistungskürzung dem Vorbehalt einer entsprechenden gesetzlichen Regelung untersteht. Insbesondere ein allgemeines Gebot der Vermeidung staatlicher Doppelleistungen – darüber, ob ein solches Prinzip tatsächlich existiert, äußert sich das Gericht nicht eindeutig – kann eine gesetzliche Grundlage für diese Leistungskürzung nicht ersetzen. Darüber hinaus (und unbeschadet dessen) wird in systematischer Gesetzesauslegung unter Einbezug der Kostenheranziehungsregelung des § 93 Abs. 1 Satz 4 SGB VIII festgestellt, dass ein Auseinanderfallen der jeweiligen Zweckrichtungen der zu verrechnenden Leistungen einer Anrechnung von Leistungen anderer Sozialleistungsträger entgegensteht. Die Komplexität der Entscheidung verdeutlicht, dass eine Vergewisserung über diese jeweiligen Zweckrichtungen eines sorgfältigen Blickes bedarf. Der Volltext des Urteils ist hier abrufbar:

http://www.bverwg.de/de/241117U5C15.16.0



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