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Inklusion in der Kinder- und Jugendhilfe

„Von der Herausforderung sich der Komplexität des Menschen zu stellen“

Derzeit ist über die Liedsängerin Sarah Connor zu lesen, dass ihr Lied „Vincent“, in dem es um einen homosexuellen Jungen geht, der das erste Mal verliebt ist, nicht in den gängigen Radiosendern gespielt werden darf. Wie würden Sie als Leiter eines Radiosenders entscheiden?

Die zweite Frage, die weiter in eine Diskussion um das Thema Inklusion führen kann ist:

Nehmen wir an Sie hätten ein behindertes Kind, dessen Behinderung für andere nicht sichtbar ist. Würden Sie ihrem Kind empfehlen, seine Behinderung in der Bewerbung an seinen zukünftigen Arbeitgeber kund zu tun?

Auch wenn der Titel von Sarah Connor nicht gespielt wird und Sie ihrem Kind aufgrund ihrer eigenen Bedenken, dass die Gesellschaft von einer geringeren Leistungsfähigkeit bei behinderten Menschen ausgeht, abraten, die Behinderung in der Bewerbung zu erwähnen, sind es genau diese gesellschaftlichen Diskussionen, die uns Schritt für Schritt der inklusiven Kinder- und Jugendhilfe näher bringen.

Stellen wir uns die Frage: Warum gibt es bestimmte bewusste und unbewusste Einstellungen und Vorurteile gegenüber Behinderten, Migranten, Kranken, Armen usw.? Ausgrenzung und Abgrenzung schafft auf das Individuum bezogen Identität, auf die Gesellschaft bezogen eine spezifische Kultur.

Der Vergleich mit anderen Menschen gibt dem Individuum Orientierung. Die erkannte Gleichheit bestätigt wiederum die Identität des Individuums im Sinne von Kontinuität. Gleichzeitig besteht jedoch auch die Motivation, sich vom Anderen abzuheben, um das eigene Prestige und damit das Wohlbefinden zu stärken. Der Mensch lebt in dieser Dialektik von Gleichheit und Differenz, die in modernen Gesellschaften unaufhebbar ist. Wenn Theodor W. Adorno in seiner Minima Moralia 1944 schreibt, dass es darum geht „Ohne Angst verschieden sein zu können“, dann geht es keinesfalls darum, eine Gleichheit der Menschen als Tatbestand zu unterstellen oder nur als Ideal zu verfolgen, sondern die Ungleichheit / Verschiedenheit und somit die Komplexität der Menschen zu akzeptieren.

Inklusion kann man als gesellschaftlichen und organisatorischen Prozess verstehen, in dem die Kinder- und Jugendhilfe daran arbeitet, allen Kindern und Jugendlichen die Möglichkeit des gleichberechtigten und selbstbestimmten Lebens unabhängig von Geschlecht, Religion, ethnischer Zugehörigkeit, Krankheit, Behinderung, besonderen, Lernbedürfnissen, sozialen und ökonomischen Voraussetzungen und sexueller Orientierung (nicht abschließend aufgeführte „Exklusionsgründe“ ) zu ermöglichen.

Wenden wir uns nun dem Thema Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen zu. Ist das Thema Inklusion in Niedersachsen derzeit hoch aktuell und zwar nicht allein deshalb, weil die sachliche Zuständigkeit der Eingliederungshilfe für Kinder und Jugendliche auf die Kommunen übergehen soll, sondern weil das Bundesteilhabegesetz (BTHG) die Jugendämter vor die Aufgabe stellt, inklusiv tätig zu werden.

Das BTHG hat deutliche Auswirkungen auf das bisherige Verwaltungsentscheidungsverfahren gem. § 35 a SGB VIII genommen, so dass dieses angepasst werden muss.

Doch mit einer pragmatischen Umsetzung dieser vordergründigen Herausforderungen im Verwaltungsverfahren ist das Kapitel um die Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen nicht abgeschlossen. Es geht bei der Auseinandersetzung um Inklusion von Kindern und Jugendlichen mit Behinderungen um weit mehr.

Es geht um Menschen- und Kinderrechte und die Infragestellung gewohnter, erlernter und vorhandener Strukturen im Denken der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Kinder- und Jugendhilfe zugunsten einer ganzheitlichen und systemischen Sichtweise auf Kinder und Jugendliche mit Behinderungen und deren Familien.

Aufgrund der vielfachen Herausforderungen wurde in den vergangenen Jahrzehnten eine Reduzierung der Komplexität in den sozialen Hilfelandschaften durch Spezialisierungen und Trennungen geschaffen, die sich nicht nur in unseren Sozialgesetzbüchern widerspiegeln, sondern auch in spezialisierten sozialen Studiengängen mündeten.

Es geht um das Hinterfragen jahrelang etablierter Strukturen und darum, inwieweit diese eine „strukturelle Barriere“ für z.B. Kinder und Jugendliche mit Behinderungen darstellen.

Inklusion schafft Komplexität, anstatt diese zu reduzieren. Dies macht besonders der § 5 BTHG exemplarisch deutlich. Das Bundesteilhabegesetz hatte unter anderem das Ziel: Hilfen wie aus einer Hand zu schaffen! Daher hat die Kinder- und Jugendhilfe als Rehaträger die Aufgaben bekommen, soziale Teilhabe, medizinische Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben und die Teilhabe an Bildung zu ermöglichen.

Dazu ist es erforderlich, die anderen Rehaträger und deren Leistungen zu kennen und in den Fall einzubeziehen. Die sogenannten Schnittstellen zu anderen Hilfearten und Aufgaben sollten, um einen inklusiven Sozialraum für Kinder und Jugendliche zu schaffen, in gemeinschaftlicher Zusammenarbeit beleuchtet werden. Allem voran steht hier eine kooperative Zusammenarbeit mit den Trägern der Eingliederungshilfe, der Bundesagentur für Arbeit, den Krankenkassen und im BTHG nicht aufgeführt, der Hilfen zur Pflege, die im SGB XII verbleibt.

Die bisherigen Vorgehensweisen in der Hilfegewährung und die Strukturen des Verwaltungshandelns müssen zugunsten des modernen Behindertenbegriffes überprüft werden. Das System der Kinder- und Jugendhilfe ist aufgefordert, sich mit Einstellungen ihrer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und umweltbedingten Barrieren im Sozialraum auseinander zu setzen. So können mögliche etablierte Barrieren, die sich im Laufe der Jahrzehnte auch aufgrund einer Trennung der Behinderungsarten und Aufnahme in unterschiedliche Sozialgesetzbücher manifestiert haben, zugunsten der Kinder und Jugendlichen erkannt und korrigiert werden.

Zusammengefasst stellt sich die Frage, ob es nicht ein notwendiger Schritt Richtung Zukunft ist, einen Rückschritt zu tun? Daher wäre es im Hinblick auf die Ausgestaltung eines inklusiven Sozialraumes wünschenswert die bisherigen Trennungen in unserem Denken nach Sozialgesetzbüchern, zugunsten einer partizipativen Ausgestaltung der Hilfen, aufzugeben. Die Kinder- und Jugendhilfe sollte; um Inklusion zu fördern; Kinder und Jugendliche befähigen, ihre Interessen „selbstbewusst“ wahrzunehmen und zu vertreten.

Der Weg zum Ziel „Inklusive Jugendhilfe“ ist sehr komplex. Deshalb wird eine inklusive Kinder- und Jugendhilfe nicht von heute auf morgen in unserem oftmals sehr pragmatisch geprägten Alltag umsetzbar sein. Aber - und das ist entscheidend - wir können gemeinschaftlich damit beginnen, notwendige Diskussionen zu führen, Strukturen zu überdenken und Neues zu schaffen.


Heike Gottschalk

Autorin




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