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Ali – einer von 70.000 – ein unbegleiteter Minderjähriger in einer deutschen Familie - Teil 4

Gestern Abend ist er zurückgekommen, aufgekratzt und fröhlich, erschöpft und müde. Sein erster Urlaub alleine. Ali hat seinen Cousin und dessen Frau in der Schweiz besucht. Was sich so undramatisch und schön anhört war für Ali eine große Herausforderung. Mit seinem Cousin war er geflüchtet und die Schweiz war das erste Land, in dem er mehrere Monate in einem Lager gelebt hat, in dem die Flucht aus Syrien zunächst endete. Es war wunderschön bei seinem Cousin, er hat viele nette Menschen kennengelernt, der Cousin ist dort mittlerweile zu Hause und hat eine feste Arbeit. Ali spricht schon lange davon, diesen Besuch zu machen. Und gleichzeitig hatte er Angst vor der Konfrontation mit seiner Fluchtgeschichte. Wir haben ihn bestärkt, diese Reise zu machen, wohlwissend wie schwierig es möglicherweise werden würde.

Ali hat sich und uns im vergangenen Jahr fast permanent in Atem gehalten. Von außen betrachtet eine Bilderbuch-Integration eines jungen Flüchtlings aus Syrien. Er hat so viel geschafft bislang. Nach dem Realschulabschluss das FSJ im Krankenhaus, das ihm sehr gut gefallen hat und in dem er so gut angekommen ist. Der Chefarzt kommt zu seiner Verabschiedung und hält eine Rede, was bei weitem nicht bei jedem FSJ-ler der Fall ist. Wie schon in der Schule hat Ali auch hier Spuren hinterlassen. Die Kolleg*innen und Patient*innen mochten ihn, egal ob kleine Kinder oder alte Menschen. In jedem Fall eine absolute Ressource von ihm.

Das FSJ hat ihn darin motiviert, einen pflegerischen Beruf zu ergreifen. Die Tests in den Gesundheitsberufen erweisen sich jedoch für Ali mit den Deutschkenntnissen aus zwei Jahren Aufenthalt als zu schwierig. Er sitzt dort neben Abiturientinnen und Abiturienten, die Krankenpflege zur Überbrückung ihrer Wartezeit auf ein Medizinstudium lernen möchten. Im Sommer dieses Jahres musste Ali sich somit komplett neu orientieren. Termine bei der Berufsberatung, Verunsicherung über den weiteren Weg, die sich immer stärker als Verunsicherung über den weiteren Lebensweg herauskristallisieren sollte. Alis Entwicklung wird auch weiterhin geprägt durch die Situation seiner Familie in Syrien. Auch wenn die unmittelbaren Gefahren in seiner Heimatregion geringer geworden sind, ist das Leben dort alles andere als normal. Die Sicherung der wirtschaftlichen Existenz in einem Land im Kriegszustand ist schwierig und wir bekommen eine Ahnung davon, wie sehr diese Menschen dort von den Transferleistungen ihrer Verwandten im Ausland abhängig sind.

Ali kämpft vor diesem Hintergrund monatelang mit der Frage, hier lieber als Gehilfe in der Dönerbude oder als Fahrer beim Pizzabringdienst anzufangen, um kurzfristig für die Sicherung der Existenz seiner Familie sorgen zu können. Unser System einer dreijährigen Berufsausbildung mit einer eher geringen Vergütung ist für Alis Familie kaum zu verstehen. In Syrien gibt es keine handwerkliche Ausbildung in unserem Sinne, das duale System der Berufsbildung ist dort gänzlich unbekannt. Entweder man studiert, man geht zu Polizei oder Armee, bewirtschaftet das eigene Land oder versucht, mit irgendeinem Job etwas Geld zu verdienen. Und so wie Ali noch als halbes Kind in einem Friseurladen sein erstes Geld verdient und dort mindestens eine halbe Friseurlehre gemacht hat, haben viele der hier angekommenen schon berufliche Erfahrungen mitgebracht.

Bei der Berufsberatung stellt sich heraus, dass neben dem Krankenhausbereich auch – wie bei vielen jungen Männern – der Automobilmechatroniker ein für Ali sehr attraktiver Beruf ist. Wir hatten das von unserer Seite nie ins Spiel gebracht, weil wir davon ausgegangen waren, dass gefühlt jeder Zweite männliche Jugendliche KFZ-Mechatroniker werden möchte. Die Berufsberaterin machte uns eher Mut und wir haben uns ans Telefon gehängt und die Betriebe direkt angerufen, schließlich war es schon Ende Juni und eigentlich dachte wir, alle attraktiven Ausbildungsplätze sind schon vergeben. Aber auch hier öffnete sich eine Tür. In einem Betrieb war ein schon vergebener Ausbildungsplatz kurzfristig frei geworden, Ali konnte sofort ein Schnupperpraktikum machen, hat eine Woche später seinen Ausbildungsvertrag unterschrieben und ist seit dem 01. August im ersten Ausbildungsjahr als Mechatroniker.

Und wie läuft`s sonst so?

Wir haben ja eingangs geschrieben, dass uns Ali in Atem gehalten hat. Und wir können hinzufügen: auch noch in Atem hält. Der nach außen bilderbuchhaften Integration steht eine teilweise sehr zerrissene und voller Zweifel steckende Person gegenüber. Nunmehr vier Jahre ohne Familie, der schon geschilderte Druck, die Ängste vor dem Unbekannten und die bei weitem noch nicht abschließend bearbeiteten komplexen Traumata führten bei Ali zu einer für Außenstehende kaum zu begreifende Achterbahnfahrt der Stimmungen und Gefühle. Diese münden dann regelmäßig in die uns schon wohl bekannten Nächte ohne Schlaf, entweder bis zur totalen Erschöpfung oder bis wieder ein kleiner Knoten geplatzt ist und die Welt sich wieder weiter drehen kann. Bis zur nächsten Runde auf dem Karussell...

Und bei all dem ist es immer wieder ein Wunder, wie er es trotzdem schafft, seinen Anforderungen im Alltag nachzukommen und ja auch regelmäßig einen bleibend positiven Eindruck zu hinterlassen.

Hannelore und Günther Müller, Duhnsen


Teil 1-3 finden Sie hier:

http://www.soziales.niedersachsen.de/newsletter_jin/newsletter_2016/ali--einer-von-70000--ein-uma-in-einer-deutschen-familie-142304.html http://www.soziales.niedersachsen.de/startseite/kinder_jugend_familie/landesjugendamt/newsletter_jin/newsletter_03_2016/teil-2-ali--einer-von-70000--ein-unbegleiteter-minderjaehriger-in-einer-deutschen-familie-149438.html http://www.soziales.niedersachsen.de/startseite/kinder_jugend_familie/landesjugendamt/newsletter_jin/newsletter_02_2017/ali--einer-von-70000--ein-unbegleiteter-minderjaehriger-in-einer-deutschen-familie---teil-3-155046.html


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