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Beginn der Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII mit Feststellung der Minderjährigkeit

Die Problematik darf als bekannt vorausgesetzt werden: Ein unbegleitet eingereister Ausländer wird vorläufig in Obhut genommen. Seine Minderjährigkeit steht in Zweifel. Die Abarbeitung des gesetzlich vorgeschriebenen Prüfprogramms des § 42f SGB VIII (Einsichtnahme in Ausweispapiere, hilfsweise qualifizierte Inaugenscheinnahme, in Zweifelsfällen Veranlassung einer ärztlichen Untersuchung zur Altersfeststellung) zieht sich – insbesondere bei Durchlaufen aller drei Stufen – in die Länge. Am Ende ist seit dem Beginn der vorläufigen Inobhutnahme mehr als ein Monat vergangen. Der junge Mensch konnte in derartigen Fällen nach bisherigem verbreiteten Verständnis auch bei festgestellter Minderjährigkeit wegen § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII nicht mehr nach den §§ 42a f. SGB VIII verteilt werden.

Das Bundesverwaltungsgericht hat mit Urteil vom 26. April 2018 – 5 C 11.17 – entschieden, dass die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII abweichend von diesem früheren Verständnis nicht mit dem ersten Tag der vorläufigen Inobhutnahme, sondern mit dem Tag der Feststellung der Minderjährigkeit beginnt. Interessanter Weise wurde seitens des beklagten Jugendamts in dem Verfahren eine höchstrichterliche Klärung der Frage angestrebt, wann ein Zweifelsfall im Sinne des § 42f Abs. 2 Satz 1 SGB VIII gegeben ist (siehe hierzu für Niedersachsen den Beschluss des OVG Lüneburg vom 22. März 2017 – 4 ME 83/17 –). Einer recht verwinkelten verfahrensrechtlichen Situation (wegen der hier auch von einer näheren Darstellung des Sachverhalts abgesehen wird) ist es allerdings geschuldet, dass diese Frage letztlich unbeantwortet blieb – stattdessen sah sich das Gericht veranlasst, Stellung zum Beginn des Fristenlaufs nach § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII zu beziehen.

Das Gericht begründet seine Auffassung im Wesentlichen damit, dass mit Ausnahme des § 42f SGB VIII sämtliche Vorschriften ab § 42 SGB VIII eine Minderjährigkeit des unbegleitet eingereisten Ausländers als Tatbestandsmerkmal voraussetzen, dessen Vorliegen positiv festgestellt worden sein muss, entweder um daran anknüpfende Tatbestandsvoraussetzungen zu erfüllen oder um die in den betreffenden Vorschriften geregelten Rechtsfolgen auszulösen. Demzufolge setze auch der Beginn der Inobhutnahme im Sinne des § 42b Abs. 4 Nr. 4 SGB VIII voraus, dass die Minderjährigkeit feststeht. Allein mit Blick auf diejenigen Fälle, in denen eine Minderjährigkeit nicht ohne weiteres angenommen werden könne und es daher einer Altersfeststellung bedürfe, habe der Gesetzgeber eine Ausnahme gemacht und in dem – erst auf Anregung des Bundesrats eingeführten – § 42f SGB VIII eine vorläufige Inobhutnahme potenziell volljähriger Personen vorgesehen. Dieses Verständnis führt zu der Annahme, die Monatsfrist des § 42b Abs. 4 Nr. 4 könne nicht vor Feststellung der Minderjährigkeit beginnen.

Man kann die Ausführungen des Gerichts durchaus hinterfragen, wenn man sie am Wortlaut der genannten Vorschrift und an ihrem Sinn und Zweck misst. Denn die zeitliche Limitierung der Durchführung des Verteilverfahrens soll – abgesehen von einer Berücksichtigung des kindlichen Zeitempfindens – auch dem Entstehen sozialer Bindungen am Aufenthaltsort der vorläufigen Inobhutnahme vorbeugen, die sodann im Zuge der Verteilung wieder zunichte gemacht würden. Von dem Entstehen sozialer Bindungen wird man aber auch und gerade dann ausgehen können, wenn sich etwa die Durchführung einer medizinischen Altersfeststellung über einen Monat in die Länge zieht. Das Bundesverwaltungsgericht greift diesen Einwand auf, sieht ihn allerdings als in die Überlegungen des Gesetzgebers bereits „eingepreist“ an: Das Gesetz habe den grundsätzlich angestrebten Beschleunigungseffekt im Rahmen des Verteilverfahrens unter eben jenen Vorbehalt gestellt, dass die Verteilung nach den §§ 42b bis 42e SGB VIII an die Minderjährigkeit der betreffenden Personen anknüpfe.

Ungeachtet der oben stehenden Bedenken respektiert die Landesstelle zur Verteilung unbegleiteter minderjähriger Ausländerinnen und Ausländer die richterlichen Ausführungen selbstverständlich. Verteilanmeldungen, die die Monatsfrist gemäß der Berechnung des Gerichts wahren, werden dementsprechend auch dann nicht als verfristet zurückgewiesen, wenn der Beginn der vorläufigen Inobhutnahme länger als einen Monat zurückliegt. In derartigen Fällen könnte aber darüber nachgedacht werden, ob eine Verteilung nach einem solch erheblichen Zeitraum noch kindeswohlgerecht wäre. Maßgeblich für eine derartige Prüfung am Maßstab des § 42b Abs. 4 Nr. 1 SGB VIII ist – wie immer – der Einzelfall.

Den Urteilstext finden Sie hier: https://www.bverwg.de/de/260418U5C11.17.0

Interessant sind die Ausführungen in den Randnummern 26 bis 34.



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