Niedersachsen klar Logo

Anspruch auf Familiennachzug auch über die Volljährigkeit hinaus

In einem so genannten Vorabentscheidungsverfahren hatte sich der EuGH mit diesem Sachverhalt zu befassen:

Eine unbegleitete minderjährige Ausländerin mit eritreischer Staatsangehörigkeit reiste in die Niederlande ein. Am 26. Februar 2014 stellte sie einen Asylantrag. Am 2. Juni 2014 wurde sie volljährig. Mit Entscheidung vom 21. Oktober 2014 erteilte der Staatssekretär für Sicherheit und Justiz der Niederlande rückwirkend zum Zeitpunkt der Stellung des Asylantrags einen befristeten Aufenthaltstitel für Asylberechtigte. Am 23. Dezember 2014 stellte die Organisation VluchtelingenWerk Midden-Nederland im Namen der ehemals Minderjährigen einen Antrag auf Erteilung eines vorläufigen Aufenthaltstitels für ihre Eltern und ihre drei minderjährigen Brüder im Rahmen der Familienzusammenführung. Dieser Antrag wurde vom Staatssekretär für Sicherheit und Justiz mit der Begründung abgelehnt, dass im Zeitpunkt der Antragstellung bereits Volljährigkeit eingetreten gewesen sei. Nach erfolglosem Widerspruch erhoben die Eltern Klage vor einem niederländischen Gericht, welches das Verfahren dem EuGH vorlegte.

Dieses Vorabentscheidungsersuchen des niederländischen Gerichts betrifft die Auslegung von Art. 2 Buchst. f der Richtlinie 2003/86/EG des Rates vom 22. September 2003 betreffend das Recht auf Familienzusammenführung (ABl. 2003, L 251, S. 12). Die Regelung enthält eine Legaldefinition des „unbegleiteten Minderjährigen“ und weist diesen aus als „einen Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen unter 18 Jahren, der ohne Begleitung eines für ihn nach dem Gesetz oder dem Gewohnheitsrecht verantwortlichen Erwachsenen in einen Mitgliedstaat einreist, solange er sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befindet, oder Minderjährige, die ohne Begleitung im Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats zurückgelassen werden, nachdem sie in diesen Mitgliedstaat eingereist sind.“

Hintergrund der Vorlagefrage ist, dass nach europäischem Recht ein Elternnachzug bei unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen unter leichteren Voraussetzungen möglich ist als bei anderen Flüchtlingen. Im Regelfall ist die Möglichkeit einer solchen Zusammenführung dem Ermessen der Mitgliedstaaten überlassen und setzt unter anderem voraus, dass die zunächst eingereiste Person für den Unterhalt ihrer Verwandten in gerader aufsteigender Linie ersten Grades aufkommt und diese in ihrem Herkunftsland keinerlei sonstige familiäre Bindungen mehr haben (Art. 4 Abs. 2 Buchst. a der Richtlinie). Als Ausnahme von diesem Grundsatz sieht Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ein Recht auf eine solche Zusammenführung vor, das weder in das Ermessen der Mitgliedstaaten gestellt ist noch den vorstehenden Voraussetzungen unterliegt.

Fraglich war daher, ob es sich bei der während des Verfahrens volljährig gewordenen Tochter um eine unbegleitete Minderjährige im Sinne der Richtlinie handelte. In der konkreten Fallkonstellation hatte der EuGH demzufolge zu klären, zu welchem Zeitpunkt das Tatbestandsmerkmal „unter 18 Jahren“ vorliegen muss.

Im Ergebnis bejahte der EuGH die Stellung der Tochter als unbegleiteter minderjähriger Flüchtling. Zur Beurteilung des Alters eines während des Verfahrens volljährig gewordenen Flüchtlings knüpft das Gericht an den Zeitpunkt der Stellung des Antrags auf internationalen Schutz an. Begründet wird dies damit, dass es bei (ebenfalls denkbarem) Abstellen auf die Entscheidung über die Zuerkennung internationalen Schutzes von der Bearbeitungsdauer der entscheidenden Behörde abhinge, ob ein junger Flüchtling Anspruch auf Elternnachzug unter erleichterten Voraussetzungen hat. Die Bearbeitungsdauer liegt allerdings in der Sphäre der Behörde und ist von der Person, die um internationalen Schutz ersucht, im Regelfall nicht beeinflussbar. Der EuGH weist zudem darauf hin, dass die behördliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft bei Vorliegen der rechtlichen Voraussetzungen keinem Ermessen unterliege und darüber hinaus ein lediglich deklaratorischer Akt sei. Im Übrigen sieht der EuGH die Gefahr einer unerwünschten Anreizwirkung bei der Priorisierung der Antragsbearbeitung, wenn der Zeitpunkt der behördlichen Entscheidung über die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für maßgeblich gehalten würde („Im Übrigen könnte eine solche Auslegung, anstatt die nationalen Behörden dazu anzuhalten, die Anträge auf internationalen Schutz unbegleiteter Minderjähriger vorrangig zu bearbeiten, um ihrer besonderen Schutzbedürftigkeit Rechnung zu tragen – eine Möglichkeit, die mittlerweile ausdrücklich in Art. 31 Abs. 7 Buchst. b der Richtlinie 2013/32 vorgesehen ist – den gegenteiligen Effekt haben und dabei dem Ziel sowohl dieser Richtlinie als auch der Richtlinien 2003/86 und 2011/95 entgegenwirken, nämlich sicherzustellen, dass für die Mitgliedstaaten bei der Anwendung dieser Richtlinien im Einklang mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte das Wohl des Kindes tatsächlich eine vorrangige Erwägung ist.“).

Die Ausführungen des Gerichts führen im Ergebnis dazu, dass eine nach Stellung des Antrags auf Zuerkennung internationalen Schutzes eingetretene Volljährigkeit den Anspruch auf Elternnachzug unter erleichterten Bedingungen nicht entfallen lässt. Zwei weitere Anspruchsvoraussetzungen müssen jedoch gegeben sein: Zum einen muss im Rahmen dieses Verfahrens die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der Richtlinie tatsächlich zuerkannt werden. Zum anderen stellt das Gericht fest, dass der Flüchtling, der zum Zeitpunkt seines Antrags die Eigenschaft eines unbegleiteten Minderjährigen besaß, aber während des Verfahrens volljährig geworden ist, seinen Antrag auf Familienzusammenführung innerhalb einer angemessenen Frist nach Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft stellen muss. Ansonsten könnte er sich ohne jede zeitliche Begrenzung auf Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie berufen. Der auf der Grundlage dieser Vorschrift eingereichte Antrag auf Familienzusammenführung ist daher in einer solchen Situation grundsätzlich innerhalb von drei Monaten ab dem Tag zu stellen, an dem der Minderjährige als Flüchtling anerkannt worden ist.

Die Entscheidung des EuGH im Volltext finden Sie hier:

http://curia.europa.eu/juris/document/document.jsf;jsessionid=9ea7d0f130dac5f46312a79c4e3ab8af8a1e4e7328c9.e34KaxiLc3eQc40LaxqMbN4Pb3eTe0?text=&docid=200965&pageIndex=0&doclang=DE&mode=req&dir=&occ=first&part=1&cid=92298

In einer Pressemitteilung des EuGH sind die wesentlichen Entscheidungsgründe noch einmal zusammengefasst:

https://curia.europa.eu/jcms/upload/docs/application/pdf/2018-04/cp180040de.pdf

Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) hat vorläufige Hinweise zur Umsetzung des Urteils veröffentlicht, die Sie hier finden:

https://www.b-umf.de/images/2018_04_25_Hinweise_EuGH-Urteil.pdf


Dort wird unter anderem noch einmal klargestellt, dass sich das Urteil nur zum Elternnachzug äußert. Denn die erleichterten Voraussetzungen der Familienzusammenführung bestehen nach Art. 10 Abs. 3 Buchst. a der Richtlinie nur mit Blick auf Verwandte „in gerader aufsteigender Linie ersten Grades“.

Zu den Hinweisen des BumF betreffend den Umgang mit bereits eingetretenen Fristversäumnissen sei ergänzend angemerkt, dass in den geschilderten Praxisbeispielen die Gründe für die eingetretene Fristversäumnis ebenfalls nicht in der Sphäre des ehemals Minderjährigen liegen. Ihm dieses Fristversäumnis nicht entgegenzuhalten, ist daher nichts anderes als eine konsequente Fortführung des vom EuGH entwickelten Gedankengangs.



Zurück zum Newsletter
zum Seitenanfang
zur mobilen Ansicht wechseln