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Frühe Hilfen kommen an! Ein Resümee des Fachtags Frühe Hilfen 2021

100 Teilnehmerinnen und Teilnehmern fanden sich am Nikolaustag zum niedersächsische Fachtag Frühe Hilfen online zusammen. Das thematische Interesse lag hoch. Somit konnte Joachim Glaum vom Landesjugendamt die einleitenden Worte des Fachtags in die flächendeckende, niedersächsische Landschaft richten, bevor Sozialministerin Daniela Behrens live per Videozuschaltung ihre Grußworte sprach. Mit eindrücklichen und wertschätzenden Worten bedankte sich die Ministerin nicht nur für das Engagement der Akteure in den Frühen Hilfen, sondern verdeutlichte mit ihrer Ansprache zusätzlich, wie sehr ihr die Arbeit der Frühen Hilfen am Herzen liegt. Sie berichtete, die Anfänge der Frühen Hilfen bereits vor ihrer Ministerinnentätigkeit kommunal mit begleitet zu haben und schaffte so eine Verbindung zwischen den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, die gut ankam.

Dr. Christina Boll vom Deutschen Jugendinstitut München und dortige Leiterin der Abteilung „Familie und Familienpolitik“ hielt den Einstiegsvortrag zum Thema „Familien im Wandel“.

In 5 Schritten nahm sie uns zu Themen der sozialen Ungleichheit sowie sozialen Disparitäten im Zugang zu Hilfesystemen mit. Sie schaffte am Ende einen Bogen zu Befunden aus der Corona-Pandemie bevor Sie mit einem Fazit endete.

Besonders beeindruckend blieb bei ihrem Beitrag für mich der Part zur „Intensivierung der Elternschaft“. Anhand verschiedener Beispiele stellte Frau Dr. Boll die mittlerweile hohe Priorität der Elternschaft und Kindererziehung und die damit verbundenen Herausforderungen dar. Die empfundenen Anforderungen an die Elternschaft sowie die erlebte Überforderung sei insbesondere bei Alleinerziehenden gestiegen.

Eindrücklich war ebenso die Erkenntnis des Zusammenhangs zwischen dem niedrigen Bildungsabschluss von Eltern und dem damit einhergehenden erhöhten Risiko der Armutsgefährdung. Dies ist zwar keine neue Erkenntnis. Allerdings war die Aussage, dass sich dieser Umstand weiter verschärft hat, durchaus erschütternd. Mittlerweile benötigen einkommensschwache Familien vermehrt die Hälfte ihres finanziellen Einkommens zum Wohnen. Nun, nachdem ein paar Wochen vom Fachtag bis heute vergangen sind und wir mit dem Krieg in der Ukraine steigende Strom- und Heizkosten erwarten, erinnere ich mich an diese Aussage durchaus besorgt zurück.

Im 3. Teil ihres Vortrags ging Frau Dr. Boll auf den Aspekt sozialer Disparitäten im Zugang zu Hilfesystemen ein. Dabei stellte Sie einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen aufsuchenden Hilfeangeboten und deren Nutzung durch einkommensschwächere Familien her. Anhand der Forschungsergebnisse der KID-Studie (0-3) ließ sich erkennen, dass die Arbeit der Familienhebamme durchaus häufiger von einkommensschwächeren Familien genutzt wird, während andere Angebote wie z.B. Elternkurse eher von einkommensstärkeren Familien besucht werden (Komm-Struktur).


Als Fazit bleibt:

Die Hauptlast der Betreuung verbleibt weiterhin bei den Müttern und trifft insbesondere Alleinerziehende. Zugleich erfolgt eine Intensivierung der Elternschaft mit den Herausforderungen der Bildungsanforderung und Mediatisierung.

Die soziale Schere ist unter Corona-Bedingungen gewachsen und psychosozial belastete Familien werden nicht ausreichend von Unterstützungsangeboten erreicht.

Dennoch: Die Frühen Hilfen sind der zentrale „Eckpfeiler“ der Versorgungssysteme von Familien mit Kindern unter 3 Jahren und ein unverzichtbarer Kooperationspartner im Kinderschutz.

Des Weiteren folgte der Appell, aufsuchende Hilfen weiter auszubauen und Angebote noch stärker an den Bedarfen auszurichten.

Nach dem Vortrag von Frau Dr. Boll ging Herr Dr. Jörg Kohlscheen mit uns auf eine Reise der Paradoxien. Unter dem Titel „Bedarfsorientierte Gestaltung von Angeboten für Eltern“ stellte er das Passungsmodell vor und kam zu der Erkenntnis, dass auch eine Nichtinanspruchnahme von Angeboten sinnvoll sein kann. Eine spannende Aussage, die er anhand der Vorstellung unterschiedlicher Problemwahrnehmungstypen erklärte, unter denen sich sogenannte problembewusste und problemtolerante Wahrnehmungstypen durchaus paradox verhalten.

Doch zum Beginn: Mit Hilfe einer grafischen Darstellung zur Inanspruchnahmen von Angeboten im Einkommensvergleich ergänzte Herr Dr. Kohlscheen die Aussagen, die bereits Frau Dr. Boll erwähnt hatte: je höher das Einkommen, desto höher sei die Angebotsnutzung. Verbunden war diese Erkenntnis mit dem Appell, dass einkommensärmere Familien mehr Ressourcen wie z.B. Geld, Zeit und Bildung benötigen, um Angebote in Anspruch zu nehmen. Mehr Ressourcen bedeuten mehr Spielräume für Familien. So weit so klar!

Allerdings traf diese Erkenntnis nicht immer auf alle belasteten Familien zu. Dr. Kohlscheen machte sich auf die Suche nach den Ursachen, warum einzelne ressourcenärmere Familien trotzdem eine Menge auf sich nahmen, um an einem Angebot teilzunehmen. Nach seiner Erkenntnis liegt ein Grund dabei neben den notwendigen Ressourcen in der empfundenen Sinnhaftigkeit des Einzelnen zur Inanspruchnahme eines bestimmten Angebots. Oder anders herum gesagt, ist die Selektion und Nichtinanspruchnahme von Angeboten bei wenig vorhandenen Ressourcen durchaus sinnvoll!

Dieses Phänomen nahm er insbesondere bei sogenannten „problemtoleranten“ Familien wahr, die sich zwar objektiv in belastenden Einkommenssituationen befanden, ihre Situation aber subjektiv nicht als problematisch wahrnahmen und demnach nicht in die sogenannte Negativ-Stress-Spirale einsteigen.

Folgerichtig kam Herr Dr. Kohlscheen in seinem Fazit zu der Erkenntnis, dass man auch eine Nichtinanspruchnahme von Angeboten akzeptieren sollte und warb für eine Art „Tinder für Angebote“. In seiner letzten Folie ging er noch einmal paradox auf die Frage ein, wie eine Inanspruchnahme von Angeboten verhindert werden kann, indem man z.B. komplizierte Anmeldeverfahren einbaut oder Eltern möglichst viele Defizite aufzeigt.

Nach einer kurzen Pause folgte die Einteilung in 5 verschiedene Workshops mit Schwerpunkt der Zugangswege zu Familien.

WS 1: Alleinerziehende Mütter

Juliane van Staa vom Nationalen Zentrum Frühe Hilfen stellte im WS 1 eine breit angelegte empirische Untersuchung zur Erreichbarkeit von Familien für Unterstützungsangebote („Erreichbarkeitsstudie“) vor. Die Studie lieferte detaillierte Informationen zu Lebenssituation und Belastungsfaktoren, Erleben der Familiengründung und des „Mutter-Seins“, Ressourcen und Unterstützungsbedarfen sowie zu Erfahrungen mit Angeboten Früher Hilfen. Der Beitrag stellte qualitative Ergebnisse aus der Perspektive alleinerziehender Mütter vor.

WS 2: Familien mit Zuwanderungsgeschichte

Das Thema „Familien mit Zuwanderungsgeschichte“ wurde im WS 2 von Britta Kreuzer von der LAG Soziale Brennpunkte geleitet. Sie vermittelte, dass (mehrsprachige) Multiplikator*innen in den Institutionen und Diensten als Identifikationsfiguren und Türöffner für Familien mit Migrationsgeschichte hilfreich sind. Sie können Kenntnis über das Hilfesystem vermitteln, den Austausch zwischen Familien und Institutionen herstellen und Hemmnisse abbauen. Der Workshop sensibilisierte für die Bedarfe und Bedürfnisse der Zielgruppe und zeigte Möglichkeiten eines gelingenden Zugangs auf.


WS 3: Die digitale Elterngeneration - Zugänge über digitale Medien

Ein Beispiel, wie man Zugänge der Eltern über digitale Medien schafft, lieferte die Wellcome- Gründerin Rose Volz-Schmidt mit der Vorstellung der Seite „elternleben.de“. Dort erhalten junge Eltern schnell und direkt Informationen und Rat im Internet - besonders zu wichtigen Themen wie Kindererziehung und Elternsein. Frau Volz-Schmidt vermittelte anhand eines Beispiels einen Einblick über die Zugangswege der sog. „Digital Natives“ zu Unterstützungsangeboten und Beratung sowie zu Möglichkeiten und Grenzen dieser Zugänge.

WS 4: „Closed shop“ Familien

Frank Koch vom Nds. Landespräventionsrat widmete sich den in sich geschlossenen Familiensystemen. Diese vermitteln kaum Einblick, was den Zugang zu diesen Familien besonders erschwert und es besteht eine hohe Unsicherheit im Umgang mit den Familien. Der Workshop zeigte auf, wie geschlossene Familiensysteme funktionieren und was bei der Kontaktaufnahme mit ihnen Berücksichtigung finden sollte.

WS 5: Hilfe für Mütter mit psychischen Erkrankungen während der Schwangerschaft und in den ersten Lebensmonaten eines Kindes

Der Workshop ging über zwei Phasen und vermittelte unter Moderation und Leitung von Herrn Prof. Dr. A. Windorfer (Stiftung eine Chance für Kinder) sowie Frau Dr. Katrin Brüning (MEDICLIN Deister Weser Kliniken - Klinik für Akutpsychosomatik und Psychotherapie) Informationen über die typischen Problemkonstellationen sowie Hinweise zu und das Erkennen von psychischen Störungen.

Der Workshop lieferte Hinweise zu der Frage, was es so schwierig macht, psychische Störungen bei Schwangeren und jungen Müttern zu erkennen, was dabei helfen kann und endete mit einem Best practice - Beispiel aus zwei niedersächsischen Kommunen und anschließender Diskussion.


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