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Ali – einer von 70.000 – ein unbegleiteter minderjähriger Ausländer in einer deutschen Familie

Im November 2015 lernen wir uns kennen. Ein Erzieher der Wohngruppe, in der Ali im Rahmen einer Inobhutnahme untergebracht war und sein Vormund kommen zu uns. Ali soll gleich sein neues Zuhause kennenlernen und entscheiden können, ob er in einer deutschen Familie leben möchte. Mit einem weiteren unbegleiteten minderjährigen Ausländer (UMA) zwar, aber ohne seine Kumpels und Freunde aus der Wohngruppe. Ali ist groß, wirkt sehr schüchtern, spricht leise, fixiert meine Frau während des gesamten Gesprächs, wache traurige Augen. Sein Deutsch ist nach etwas mehr als drei Monaten im Land schon so gut, dass wir die Dolmetscherin in der Vorstellungsrunde kaum benötigen. Wir verabreden eine gegenseitige Rückmeldung nach drei Tagen.

Was wissen wir bis dahin? Ali ist kurdischer Syrer, nicht praktizierender Moslem, alleine in Deutschland, im Juli 2015 gekommen, in Deutschland lebt ein Cousin mit seiner Familie.

Die Entscheidung, zwei unbegleitete Minderjährige in unserer Familie aufzunehmen, reifte während unseres Sommerurlaubs. Drei eigene Kinder und fast 20 ‚fremde’ Kinder hatten wir bis dahin ihr ganzes oder Teile Ihres Lebens begleitet. Von drei Tagen bis über 10 Jahre. Eigentlich waren wir mit unserer Erziehungsarbeit durch. Pubertät ist anstrengend, für Kinder und für Erwachsene. Und eigentlich hatten wir pubertierende junge Menschen im Übermaß genossen. Aber die Bilder und Berichte über all die Konflikte und die vielen jungen allein reisenden Menschen ließen uns nicht los. Und unser Jugendamt suchte auch händeringend Familien für diese allein reisenden jungen Menschen. Aber waren die denn familienfähig? Die meisten über 16 Jahre, durch halb Europa gereist, so selbstständig?

Ali hatte sich nach Aussage seiner Betreuer sehr schnell entschieden. Er wollte es versuchen mit uns. Und wir mit ihm. Auch unsere Entscheidung war schnell gefallen. Der erste Eindruck war entscheidend, ein klares ‚Ja’!

Weitere zwei Tage später fuhren wir zu seiner Wohngruppe. Betreuer und Jugendliche empfingen uns, Deutsche, Syrer, Afghanen, eine bunte Mischung. Ali war nicht da. Wir unterhielten uns im Dienstzimmer der WG. Er wird schon kommen, ein bisschen Angst und Abschiedsschmerz. Eine halbe Stunde später erleben wir die ergreifendste Abschiedsszene in einer Jugendhilfeeinrichtung, die wir je gesehen hatten. Egal ob Deutsche oder Flüchtlinge, es fließen viele Tränen. Ali scheint einen tiefen Eindruck hinterlassen zu haben....

Bei uns angekommen, eine Hausführung, ein Kaffee und nach einer weiteren halben Stunde ist das Zimmer dekoriert. Bilder der Familie, der Freunde aus der Wohngruppe, an der Decke hängt eine Deutschlandfahne. Die erste in unserem Haus. Was wird uns dieser junge Mann aus Syrien über unsere deutsche Identität beibringen?

Wir hatten unsere Familie, unsere engsten Nachbarn und Freunde natürlich eingebunden in unsere Entscheidung. Die Reaktionen waren neutral bis positiv. Vielleicht wollte uns auch keiner in unserem Eifer bremsen. Überhaupt könnte man ja nach dem Ende der euphorischen Begrüßungsrituale an Grenzen und Bahnhöfen nach und nach den Eindruck gewinnen, dass – als die Stimmung zu kippen begann (wie auch schon vor Köln immer wieder in den Medien beschworen wurde), dass da nur Naivlinge am Werk gewesen sein konnten. Aber vielleicht wollten wir ‚unser’ Deutschland ja gerade so?

Aber zurück zu Ali: was wir schnell bemerken: die Nächte sind ein Problem. Ständiger Kontakt zur Familie und zu Freunden übers Smartphone, YouTube und Facebook ermöglichen den dauerhaften Zugriff auf die neuesten Kriegsgeschichten aus der Heimat. Wir stellen nach 22 Uhr das Internet ab. Ali schläft trotzdem ganze Nächte so gut wie gar nicht. Er wirkt dann morgens wie gefoltert. Kalte Duschen in der Nacht, mit der Faust oder Kopf buchstäblich gegen die Wand donnern. Alles scheint nichts zu nützen. Zu diesem Zeitpunkt kennen wir die Bilder und Geschichten noch nicht, die ihn nicht schlafen lassen.

Ali scheint ein großes Überraschungspaket zu sein. Respektvoll und schüchtern, sensibel und feinfühlig. Er kann zeichnen, Musik machen, kochen, Haare schneiden, Fußball spielen und noch so einiges mehr. Er ist laut und frech. Manchmal explodiert er förmlich vor richtungsloser Energie. Tausende Volt scheint er dann in sich aufgestaut zu haben. Man kann es kaum erzählen, man müsste ihn Filmen. 20, 30, 50 Liegestütze, ab in den Kreuzstand an irgendwelchen Möbelstücken, Balanceakte auf Tischen, Stühlen und irgendwelchen Regalen, alles nonstop und in atemberaubender Geschwindigkeit.

Wie diesem geballten Powerpaket eine sinnvolle Richtung weisen, die Energie kanalisieren? Wie die Nächte erträglicher gestalten? Meine Frau stellt fest, dass Körperkontakt beruhigend wirkt. Er kann eine Hand am Arm oder einen Fuß am Bein zulassen, Kopf kraulen, es scheint ihn zu beruhigen. Dies wird sich als der Schlüssel für die nächsten Wochen erweisen. Abendliches ins Bett bringen, Körperkontakt herstellen, Energie ‚abzapfen’, schlafen. Regelrechte Nachtschichten brechen an, aber es lohnt sich. Ali kann diese Zeit der Ruhe nutzen und beginnt zu erzählen. Von Flucht vor dem Krieg kann eigentlich keine Rede sein. Seine Eltern haben ihn nach Deutschland geschickt. Aus Angst um ihn. Sie wollen in Syrien bleiben – zumindest so lange es geht. Aber Ali sollte in Sicherheit sein. Das erfährt er jedoch erst, als er schon in Deutschland ist.

Ali meldet sich schon mit 13 das erste Mal freiwillig zur YPG – der Armee der syrischen Kurden. Er will gegen die IS kämpfen. Ali will kämpfen und notfalls sterben. Für seine Familie, für sein Volk.

Die YPG nimmt gerne Kinder auf, aber den 13-jährigen schicken sie wieder weg. Ein Jahr später versucht er es – gegen den Willen der Eltern - nochmals, dieses Mal darf er bleiben. Nach 14 Tagen sieht die Familie ihren Sohn im Fernsehen, sein Freund stirbt in seinen Armen. Die kurdische Armee schickt ihn zu Erholung nach Hause. Die Flucht nach Deutschland wird beschlossen. Ali reist mit einem Cousin. Sie stranden zunächst in Österreich, 6 Monate Lager mit Erwachsenen. Ali will jedoch nicht in Österreich bleiben. Schon bei der WM hat er Deutschland die Daumen gedrückt, als Einziger in der Familie. Der blutende Kämpfer Bastian Schweinsteiger hat ihm imponiert. Er kann irgendwann ausreisen und kommt im Sommer 2015 nach Deutschland.

Sein Deutschlandbild ist nicht naiv. Es gibt vermutlich nur wenige Gleichaltrige, die so vieles über die deutsche Geschichte wissen. Als ob er im Lager in Österreich die viele Zeit genutzt hätte, Guido Knopp einmal von A-Z durchzuarbeiten. Vielleicht lag gerade hierin ein (unbewusster) Antrieb, so zielgerichtet nach Deutschland zu kommen. Wenn sich dieses Land nach dem zweiten Weltkrieg so aufgerichtet hat, vielleicht gibt es dann auch eine Zukunft für Syrien?

Unser Familienweihnachten mit vollem Haus und seinen ganz eigenen Ritualen war natürlich sehr aufregend nach nur fünf Wochen Eingewöhnungszeit. Die geballte Großfamilie massiert und für mehrere Tage im Haus ist schon immer für neu hinzukommende Freunde und Freundinnen unserer erwachsenen Kinder eine echte Herausforderung und wir waren sehr gespannt, wie Ali damit umgehen würde. Und dann saß er im Gottesdienst am Heiligen Abend neben mir und wir haben gemeinsam Stille Nacht gesungen, ein sehr anrührender Moment. Für Ali war dies jedoch weniger fremd als wir dachten. In Syrien sind sie schon als Kinder zu allen christlichen Feiertagen mit in die Kirchen gegangen und die Christen sind dann im Gegenzug mit den Moslems bei den islamischen Feiertagen mit in die Moscheen gegangen. Die Unterscheidung in sunnitische, schiitische und alevitische Moslems hat er erst in Deutschland kennen gelernt.

Nach den Zeugnisferien bekommt Ali endlich einen Schulplatz. Sprachlernklasse plus Teilnahme am Unterricht in einer neunten Klasse. Das schafft er schon nach wenigen Tagen ganz gut. Und dann – schneller als wir erhofft hatten – werden die Mädchen des Jahrgangs auf Ali aufmerksam. Dieser gut aussende und etwas geheimnisvolle junge Mann hebt sich doch sehr von den in ihrer erwachenden Männlichkeit noch so unsicheren Gleichaltrigen ab.

Facebook und WhatsApp tun ihr Übriges, man schreibt sich und es kommt zu den ersten Dates. Wir versuchen Ali vorzubereiten. Er kennt diese ‚Offensivkraft’ der deutschen Mädchen überhaupt nicht. In Syrien gibt es vielleicht ein paar schüchterne Blicke zwischen den Geschlechtern. Aber schon die direkte Ansprache über die sozialen Medien war ihm vollkommen fremd. Aber auch auf diesem Gebiet lernt Ali schnell und er hat jetzt eine Freundin. Noch alles etwas heimlich, die Mutter des Mädchens kennt ihn noch nicht, weiß gar nicht, dass die 15-jährige Tochter einen unbegleiteten minderjährigen Ausländer zum Freund hat. Heimlichkeiten zwischen Jungs und Mädchen sind ihm sicherlich viel vertrauter als unsere Offenheit. Es beginnt ein nun schon mehrere Wochen anhaltendes hin-und-her. Er ist schwer verliebt, aber die von uns gewünschte Offenbarung der Beziehung gegenüber der Mutter des Mädchens gibt es (noch) nicht.

Ali hat ein breites Stimmungsspektrum, das sich nahezu 1:1 über seine Musik mitteilt, so dass wir daran ganz gut ablesen können, wie es in ihm gerade aussieht. Melancholische bis tieftraurige arabische, iranische oder kurdische Klänge, wütender Rap, deutsche Schlager, eine schreckliche Heino-Version der deutschen Nationalhymne, es ist alles dabei. Und die Musik ist sein Ventil in sämtlichen Stimmungslagen. Und es muss manchmal richtig laut sein. Kopfhörer reicht nicht, der Boden muss zittern, Grönemeyers „Sie mag Musik nur, wenn sie laut ist“ kommt mir dann in den Sinn. Unsere Nachbarn kennen sicherlich auch schon einige der Lieder. Wir ermutigen sie, sich zu melden, wenn es zu laut oder zu nervig wird. Es gibt nie Stress, wenn wir ihn bitten, doch etwas leiser zu drehen.

Es gibt immer wieder Nachrichten aus der Heimat, die Ali förmlich zusammenbrechen lassen. In den nunmehr 4,5 Monaten in unserem Haus sind mehrere Freunde im Krieg getötet worden, seine Familie kann nicht durchgehend über ausreichend Nahrungsmittel verfügen, sein Bruder ist schwer krank und das Krankenhaus kann ihn nicht behandeln. Es ist oft zu viel, was da auf einen 16-jährigen einströmt. Er fühlt sich verantwortlich, ohnmächtig, zornig auf die Schuldigen an dieser Situation, alles zusammen.

Wir wussten nicht genau, auf was wir uns mit der Aufnahme von Kriegsflüchtlingen in unser Haus einlassen. Wir machen gerade einige der tiefgreifendsten Erfahrungen seit der Geburt unserer eigenen Kinder. Wir wissen, die Jahre mit Ali werden schwer. Wir werden ihn in jedem Fall auf seinem Weg begleiten. Unsere langjährige Erfahrung in der Erziehungsarbeit war noch nie so wichtig, wie im Moment. Es macht wahrlich nicht immer Spaß, aber selten waren unser Wissen, unser Können und unsere Haltung so wichtig wie in diesen Tagen.

Wir werden vielleicht an dieser Stelle weiter berichten…


Hannelore und Günther Müller, Duhnsen




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