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Ali – einer von 70.000 – ein unbegleiteter Minderjähriger in einer deutschen Familie - Teil 3

Es war auch für uns eine sehr berührende Schulabschlussfeier. Es ist nachts um 1 Uhr. Wir stehen auf dem Schulhof und Ali weint und die Tränen wollen gar nicht aufhören. Wir wussten oder hatten es im Gefühl, dass Ali wirklich dazugehört, Teil dieser Klasse, Teil dieses Jahrgangs geworden ist. Es waren ja nur wenige Monate, die vorbeirauschten wie ein ICE. Und dann haben Sie ihn als ersten im Pulk des Abschiedsjahrgangs hochleben lassen, in ihre Mitte genommen und stundenlang nur noch getanzt und gefeiert.

Wir hatten schon einige seiner Klassenkameraden kennengelernt, er hat seinen Geburtstag ordentlich gefeiert und war selbst auch oft eingeladen. An diesem Abend hatten wir erstmals die Gelegenheit, auch mit den anderen Eltern etwas ausführlicher zu reden. Und alle kannten Ali, hatten von ihm gehört oder ihn kennengelernt. Selten haben wir über ein Kind so viel Positives gehört – und es war ja schon unsere 5. oder 6. Schulabschlussfeier…

Ja, Ali hat es geschafft. Sprachlernklasse im Frühjahr 2016, Probebeschulung in der Hauptschule bis zu den Herbstferien, Wechsel in den Realschulzweig nach den Weihnachtsferien und jetzt: Realschulabschluss mit einem Durchschnitt von < 2,5. Es wird für ihn und für uns sicherlich noch dauern, bis das wirklich ankommt, welches kleine Wunder er da eigentlich vollbracht hat. Wir fühlen uns ein bisschen wie Sportler, die das eigentlich für unmöglich gehaltene geschafft haben und jetzt vorm Mikro stehen und anfangen zu stammeln, weil es dafür noch keine Worte gibt.

Es war tatsächlich eine Energieleistung Ali`s, aber das alleine reicht natürlich nicht. Wie oft habe ich den Satz gehört oder selbst gesagt: wenn Du das wirklich schaffen willst, solltest Du... oder solltest Du nicht… Ihn an sein Ziel erinnern, das Ziel aber auch konsequent zu seinem und nicht zu unserem zu machen, das war unser Programm. Daneben dann aber die genauso konsequente Unterstützung, wenn er sie brauchte. So stand er in Deutsch zwischen 3 und 4, bei einer Lehrerin, die ihn zwar mochte aber eigentlich auf dem Standpunkt stand, dass er mit seinen nach wie vor lückenhaften Deutschkenntnissen bestenfalls eine 4 bekommen kann. Er hatte dann (über Himmelfahrt) eine Woche Zeit, ein Referat vorzubereiten. Eine Buchvorstellung aus der Spiegel-Bestsellerliste. Wir haben uns die Liste angeschaut und eigentlich schon aufgegeben. Bücher mit über 200 Seiten, Zusammenfassung, Autor vorstellen und natürlich lesen und verstehen. Für Ali? Das konnte nicht gehen. Und dann haben wir auf der Jugendbuch-Bestsellerliste „Frieden jetzt“ entdeckt. Die Rede von Astrid Lindgren zur Verleihung des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels von 1978. Neu aufgelegt und mit ergänzenden Beiträgen versehen. Sein Thema, lesbarer Text, nicht zu lang. Er hat das Buch in seiner Klasse vorgestellt, in freier Rede und konnte Nachfragen zum Thema und zur Autorin beantworten. Er hat dann die 3 im Zeugnis bekommen!

Ali´s Schulgeschichte verlief also weitgehend harmonisch und außerordentlich positiv. Und der Rest? Wo Licht da auch Schatten…..

Ali hängt nach wie vor in der Luft, was seine Zukunftsperspektive angeht. Die Anhörung beim BAMF war im April, aber es gibt nach wie vor keine Entscheidung. Die Anhörung verlief gut, aber was heißt das schon über die Entscheidung. Und ehrlich gesagt ist bei uns nach den ganzen Geschichten über die Entscheidungspraxis des BAMF das Vertrauen in diese Behörde nicht allzu üppig entwickelt….

Die Geschichten aus der Heimat haben sich leider auch nicht wesentlich verändert. Unsicherheit bleibt das prägende Thema und wir fragen uns manchmal, wie diese Familie das alles erträgt. Unsicherheit meint hier die existentielle Perspektive. Die Unsicherheit über die tägliche Versorgung, die Konfrontation mit Kriegshandlungen, die Fragen des Überlebens. Wenn es schlechte Nachrichten gibt – und die gibt es leider regelmäßig – rauscht unser Ali emotional tief in den Keller. Je besser es ihm persönlich gerade geht, desto tiefer ist der Fall. Trauer, Wut, Verzweiflung, der Rückzug in die eigene Welt sind dann Programm. Diesen Ali kennt niemand, keine Lehrer, keine Mitschüler, keine Freunde, kein Jugendamt. Sie alle kennen nur die Schokoladenseite des starken Ali, der vor Energie strotzt, gut aussieht und alles schafft. Und für uns heißt es dann zunächst abwarten um dann den richtigen Zeitpunkt zu erwischen, ihm die Leiter hinzustellen, mit der er emotional wieder nach oben steigen kann. Und hoffen, dass er sich selbst und unser Haus in seiner Wut und seiner Verzweiflung nicht zu stark verletzt….

Wie geht es weiter? Jetzt erstmal Urlaub! Und dann FSJ ab dem 01. August und dann droht schon die Auseinandersetzung mit dem Jugendamt um die Weitergewährung der Hilfe. Wer so fit ist wie Ali, der kann doch mit 18 ausziehen und auf eigenen Beinen stehen…Und natürlich erfüllen wir dann das Klischee der Gasteltern, die nicht loslassen können, die den armen Jungen noch ein bisschen hätscheln wollen. Sie alle kennen ja nur die Schokoladenseite…..

Hannelore und Günther Müller, Duhnsen


Teil 1 und 2 finden Sie hier:

http://www.soziales.niedersachsen.de/newsletter_jin/newsletter_2016/ali--einer-von-70000--ein-uma-in-einer-deutschen-familie-142304.html

http://www.soziales.niedersachsen.de/startseite/kinder_jugend_familie/landesjugendamt/newsletter_jin/newsletter_03_2016/teil-2-ali--einer-von-70000--ein-unbegleiteter-minderjaehriger-in-einer-deutschen-familie-149438.html


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